"Dem Armen ein Herz geben"
Erzbischof Franz Lackner lädt anlässlich des Jahres der Barmherzigkeit dazu ein, "dem Armen ein Herz zu geben"
Was ist Barmherzigkeit mit dem Blick Gottes auf den Menschen? Über Barmherzigkeit oberflächlich sprechen ist verführerisch - sie darf nicht zum augenblicklichen Wohlgefühl werden, das Wunden einfach zudeckt. Dieses wird nicht gerecht den Menschen, denen wirkliches Leid zugefügt wurde: eine Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit.
Andererseits gibt es die Wahrnehmung von Gerechtigkeit, die den Blick auf den Einzelnen verstellt und letztlich diesem nicht angemessen wird. Gott ist barmherzig und gerecht. Der ursprüngliche Wortsinn aus dem Lateinischen bedeutet – miseri cor dare – „dem Armen ein Herz geben“.
In Jesus ist uns Gott so nahe. Jesus zeigt uns den Blick Gottes auf den Menschen. Er, der gekommen ist, das Gesetz nicht aufzuheben, schärft uns das Gespür für den Einzelnen. Auf die Frage, wer ist der Nächste, erzählt er das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Samaritaner gehörten nicht zum auserwählten Volk, die Juden pflegten keinen Umgang mit ihnen. Ausgerechnet dieser Samariter wird, als er den unter die Räubern gefallenen Mann sieht, von Mitleid erfasst, geht zu ihm hin, gießt Öl und Wein auf seine Wunden: er wendet sich ihm zu, gibt ihm ein Herz.
Das ist die Herausforderung unserer Zeit. Überall wo der Einzelne in seiner Schwäche auf Zuwendung, Hilfe und Verständnis hofft, dürfen wir ihm das Herz nicht verschließen.
Ich weiß aus Begegnungen, dass nicht wenige Menschen sich auch mit der Kirche schwer tun, sie zu verstehen, und manche leiden an ihr. An diesen Schnittstellen, wo Leidende in ihrer Lebensgeschichte sich nicht aufgehoben erfahren, liegt der Ort der Barmherzigkeit Gottes. Diesen Menschen gilt es ein Herz geben, nicht im Sinne von Großzügigkeit, sich nicht gönnerhaft erweisen, sondern im Innersten betreffen lassen - und handeln! Das ist ohne Gottes Sendung nicht möglich.
Der Hl. Franziskus gibt dazu ein bewegendes Beispiel aus seiner Zeit, als eine unheilbare Krankheit grassierte. Wurde bei jemandem Aussatz festgestellt, musste er hinaus aus der Stadt, in ein sumpfiges Gebiet unten im Tal. Zugleich läutete man die Totenglocken und betete ein Requiem. Franziskus berichtet, wie es ihm widerlich war, diesen Menschen zu begegnen und sie anzuschauen. Im Testament bekennt er: Der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt.
Dieses Jahr der Barmherzigkeit ist eine Gnadenzeit. Im großen Vertrauen, dass der Heilige Geist die Kirche Gottes führt, machen wir Schritte auf Menschen zu, die leiden, die auf der Flucht sind, deren Herz gebrochen ist. Tun wir das, was Barmherzigkeit sagt: den Armen ein Herz geben.