Hungernde speisen
Für Ruhe-Suchende ist es eine Oase in der hektischen Großstadt, für Hungernde eine wichtige Labstation – das Franziskanerkloster mitten in Wien. Nur einen Steinwurf vom Stephansdom entfernt wird Nächstenliebe greifbar – als Wurstbrot, Suppe aber auch im Gespräch
"Unser tägliches Brot gib uns heute" – unzählige Male hat man diese Zeile des "Vater unser" schon gebetet, unzählige Male vielleicht auch übersehen, wie existentiell wichtig das tägliche Brot gerade dann wird, wenn plötzlich wegen finanzieller Not die Mahlzeiten schmäler, der Hunger größer wird. Erschreckend nah rückt das Gebet, rückt diese Not allmorgendlich ab 9 Uhr an der Pforte des Wiener Franziskanerklosters. Wer an die Pforte herantritt und stumm nickend oder verschämt die Augen niederschlagend je zwei große Wurstbrote entgegennimmt, hat sich bereits eingestehen müssen, bedürftig zu sein, vielleicht zu jener Million Menschen zu gehören, die laut Armutsbericht in Österreich von akuter Armut bedroht sind oder bereits unter der Armutsgrenze leben.
An diesem Mittwoch weist ein handgeschriebenes Schild die Gäste von der Pforte weiter in das große, ehrwürdige Refektorium des Klosters. Die langen, säuberlich gewienerten Tischreihen des Speisesaals zeugen von der einstigen Pracht. Einmal pro Woche gibt es anstelle der Brote eine kräftige Suppe, einmal im Monat kommt diese sogar vom Wiener Nobellokal "Drei Husaren" – eine der vielen innovativen Projekte und Kooperationen, die der Guardian des Klosters, P. Gottfried Wegleitner, in den letzten Jahren auf den Weg gebracht hat.
Punkt 9 Uhr durchqueren die ersten Gäste langsam das Refektorium, in dem sonst die derzeit 14 Mönche des Klosters ihre Mahlzeiten einnehmen. "Heute haben die Kinder wieder für euch gekocht" begrüßt Yvonne Matula die hungrigen Besucher, die sich ruhig in einer Reihe vor einem dampfenden Topf Krautsuppe aufstellen. Anerkennendes Nicken, ein herzliches Dankeschön von den meisten, von einigen ein scheues Lächeln.
Selbstverständlich und ganz unaufgeregt
Die Kinder, das sind Marianne, Niki, Wilhelm und Anna. Sie stammen vom Gymnasium Stubenbastei, 7. Klasse, und kümmern sich bereits seit rund fünf Jahren um die Ausspeisung. "Am Anfang war das ganze ein Schulprojekt zum Thema Armut, aber wir haben danach einfach weitermachen wollen – und jetzt machen wir das ganze schon fünf Jahre einmal im Monat und kennen schon viele Leute und Schicksale", berichtet Marianne.
Gekocht wird unter den strengen Augen von Yvonne Matula. Seit Jahr und Tag ist die ehemalige Lehrerin das Herz der Ausspeisung. Ehrenamtlich, versteht sich, teilt sie Nächstenliebe tellerweise aus. Auch sie kennt die meisten Gäste, ihre Lebensgeschichten, ihre Ticks und Macken bereits seit Jahren. "Ich war einmal Fakir", sagt Karl und zeigt ein breites Grinsen, als ihm Frau Matula einen großen Teller dampfende Krautsuppe reicht. Ob er sich fotografieren lasse? – "Natürlich, gerne, aber nur mit Frau Matula", sagt Karl.
Finanziell unterstützt wird die Suppenausspeisung vom Lions-Club. "Diese Form der Diakonie ist das mindeste, was wir tun können. Es gehört einfach zu einem Kloster dazu. Wir machen das selbstverständlich und ganz unaufgeregt" sagt P. Wegleitner und nickt einigen bekannten Gesichtern im Saal zu. Viele kennt er schon seit Jahren – und viele kennen ihn, seit er Dienst an der Klosterpforte schob – vor fast 20 Jahren. So etwa der Rentner Anton Vsetecka. Früher war er im Lebensmittelmagazin eines Pensionistenheims tätig. Seit er in Pension ist, kommt der alleinstehende ältere Herr täglich zu den Franziskanern, manchmal nimmt er auch an den Gottesdiensten teil. "Ich habe höchsten Respekt vor dem, was die Franziskaner und die Kinder hier für uns tun", sagt Vsetecka. Er sitzt – wie die meisten – etwas abseits an einem Ende der langen Holztafel. Den Tag über verbringt er zumeist unterwegs. "Allein zuhause hocken ist ja auch nichts".
"Da gibt es kaum mehr ein Entrinnen"
Als die Gäste sich über ihre duftenden Teller beugen, hat Frau Matula einen Moment Verschnaufpause. "Vielen unserer Gäste sieht man ihre Armut nicht gleich an, es ist versteckte Armut, viele sind Mindestpensionisten, die sich zwar noch ihre Wohnung, nicht mehr jedoch die täglichen Mahlzeiten leisten können". Einige habe aber auch die sich in den letzten Jahren verschärfende Wirtschaftskrise kalt erwischt, wieder andere seien in dem fatalen Zirkeln von Alkohol, Trennung bzw. Scheidung, Job- und Wohnungsverlust gefangen. "Da gibt es dann kaum mehr ein Entrinnen".
Ans zu Hause hocken denkt auch Otto Tuma nicht. 27 Jahre lang war er Florist, dann hat er seinen Job verloren, seither ist er Straßenmusiker, erzählt er zwischen zwei Löffeln Suppe, kramt einen Walkman und einige Kassetten hervor, zu denen er singt, und zeigt sein breites Lächeln. "Das Essen hier ist das Beste was es gibt". Er kennt auch andere Essensausspeisungen, hierher kommt er aber immer wieder gerne – wenn er auf seiner Konzerttournee durch die Innenstadt hier vorbeikommt.
Quelle: "Stadt Gottes" (2009) | Autor: Henning Klingen
Hinweis:
P. Gottfried Wegleitner ist seit 2014 nicht mehr Guardian des Wiener Franziskanerklosters. Diese Funktion hat Mitte 2014 Pater Felix Gradl übernommen.