Nackte bekleiden
Die Caritas-Spendenlager ("Carla") in Wien sind ein zentraler und lebendiger Umschlagplatz für Bücher, Möbel, Raritäten – und Kleidung. Mit dem Erlös werden Projekte für langzeitarbeitslose Menschen unterstützt.
Dass man trotz Armut allein durch ein gepflegtes Äußeres zu Reichtum und Wohlstand kommt wie der Schneidergeselle Strapinski in Gottfried Kellers Novelle "Kleider machen Leute", diese Hoffnung gehört wohl in den Bereich der Märchen und Legenden. Dass gepflegte Kleidung jedoch selbst in finanziell angespannten Situationen ein Maßstab für Selbstwertgefühl und Selbstachtung ist, lehrt ein Gang durch das "Carla", das Caritas-Spendenlager am Mittersteig in Wien.
"Spendenlager" klingt technisch, nach institutionalisierter, gar nach kalter Fürsorge. Tatsächlich betritt man in dem Hinterhof, gleich neben dem Gasthaus "Zur Gemütlichkeit", einen bunten Bazar, einen lebendigen Marktplatz, untergebracht in den weitläufigen, 3.000 qm großen Hallen einer ehemaligen KFZ-Werkstatt. Möbel, Bücher, Elektrogeräte, ja sogar Klaviere und eben Kleidung werden hier umgesetzt, von Depression ist nichts zu spüren. Im Gegenteil, es geht zu wie in einem Taubenschlag: Kinder huschen zwischen den unzähligen Regalreihen hindurch, ein älterer Herr testet einige hörbar verstimmte Klaviere, Mitarbeiter entladen einen "Carla"-Transporter mit frischer "Ware".
Billigwaren? - Fehlanzeige!
Wer sich durch den zentralen Gang vorbei an Haushaltsgeräten, einem riesigen Aquarium, unzähligen Sofas und Wohnlandschaften ans Ende der Halle gekämpft hat, kommt endlich in einen ruhigeren Bereich, "Textil" überschrieben. Angenehme Musik, Teppiche am Boden und gedämpfte Lautstärke sorgen für die rechte Einkaufsatmosphäre. "Das ist unsere Boutique", sagt Elisabeth Mimra, Leiterin des "Carla", und weist mit ausladender Handbewegung auf die zahlreichen Kleiderständer, Regalmeter und Schuhständer. Anzüge gibt es ebenso zu kaufen wie Trachten, ausgefallene Hüte, Krawatten oder hochwertige Jeans und Stoffhosen. Billigware? – Fehlanzeige.
Kritisch prüfen zwei ältere Damen eine rote Bluse. "Leider nicht in meiner Größe vorhanden", murmeln sie und ziehen weiter. "Wir haben natürlich nicht alles in jeder Größe vorrätig, sondern sind immer von den Kleidungsspenden abhängig", erklärt Elisabeth Mimra. Die Preise selbst für wenig getragene Maßanzüge sind moderat bis sehr günstig. Umkleidekabinen verbreiten ebenso das Flair eines "normalen" Kleidungsgeschäfts wie die Bankomatkassa. "Es geht immer um den einzelnen Menschen, der auch individuelle Zuwendung und Förderung benötigt, dessen Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind. Manche brauchen Basisversorgung wie Kleidung und Nahrung, andere kommen hierher und kaufen ganz normal ein – nur halt zu günstigen Preisen", erklärt Mimra.
Der Erfolg des "Carla" fällt natürlich nicht vom Himmel. Professionelle PR-Arbeit und Innovationsgeist gehören ebenso zum Erfolgsrezept wie das Engagement der Mitarbeiter. Matineen, Ausstellungen, Konzerte – auch das kann man im "Carla" erleben, Eintritt natürlich gratis. Selbst Kundenbindungskonzepte hat man sich von den "Großen" des Handels abgeschaut: So bietet eine eigene Kundenkarte Rabatte für treue Kunden – und selbstverständlich informiert ein elektronischer Newsletter über aktuelle Angebote und Aktionen.
Hoffnung auf einen Neuanfang
Gewiss, der Grat, auf dem die PR-Maschine die "Carlas" als Bazar und als gesellschaftliche Zentren bewirbt, ist ein schmaler. Die wenigsten kommen zum "Carla", weil sie die Atmosphäre schätzen. Es sind Bedürftige, Familien, denen am Monatsende das Geld knapp wird, Mindestpensionisten und – immer häufiger – die neue Gruppe der "working poor", der voll Berufstätigen, die von ihrem Einkommen kein Auskommen mehr finden.
Wer gleich im Eingangsbereich des "Carla" die zweite Tür auf der linken Seite nimmt, hat sich eben dies eingestanden: bedürftig zu sein. Hier befindet sich die Gratis-Kleiderausgabe. Einmal pro Quartal gibt es dort die Möglichkeit, sich kostenlos komplett einzukleiden. Auch hier herrscht – natürlich – Respekt vor den Kunden. Kein Einkommensnachweis ist nötig, jede mögliche Demutsquelle soll verhindert werden. Einzig der Meldezettel muss vorgelegt werden.
Mehr als 30 "Carlas" gibt es bereits in ganz Österreich; Tendenz ebenso wie bei den Sozialmärkten steigend. Ihr Erlös fließt in die Projektarbeit der Caritas, so etwa in die Projekte für langzeitarbeitslose Menschen. Auch hier sind die "Carlas" übrigens vorbildhaft: gut die Hälfte der insgesamt 200 Mitarbeiter der beiden "Carlas" in Wien sind langzeitarbeitslose Menschen, die nach einer Chance zur Reintegration in den freien Arbeitsmarkt suchen. Unterstützt vom AMS, erhalten sie ein sechsmonatiges befristetes Dienstverhältnis im "Carla", wo sie Arbeitspraxis, soziale Kompetenz und vor allem neues Selbstbewusstsein sammeln können – sozialarbeiterische Betreuung und Beratung für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt inklusive.
Kleider können also doch Leute machen – gewiss, sie machen nicht reich, wie es Gottfried Keller suggerierte, aber sie bieten mitunter die Möglichkeit zu einem hoffnungsvollen Neuanfang.
Quelle: "Stadt Gottes" (2009) | Autor: Henning Klingen