Tote begraben
Der Tod lässt verstummen, er macht sprachlos, er lehrt Menschen aber auch Beten und Hoffnungskräfte entwickeln – und für manch einen ist er ein hartes Stück Arbeit. Eine Gradwanderung zwischen Trauerarbeit und Bestattungskultur.
Müde kämpft sich die Nachmittagssonne durch die dichten Baumkronen, Herbstblumen schimmern kräftig durchs Efeu, nur vereinzelt dringt das Rattern der nahen Straßenbahn durch das dichte Grün. Ein Ort, der Ruhe und Frieden ausstrahlt – wie der Name schon sagt: Willkommen auf dem Wiener Zentralfriehof. "Darum liebe ich meinen Job so", sagt Christian Schertler und schließt kurz die Augen. Dann schwingt er sich wie ein geübter Turner in eine 1,50 Meter tiefe Grabstelle und beginnt zu Schaufeln. Christian Schertler ist Totengräber – "Grabgräber" lautet die korrekte Berufsbezeichnung – und das bereits seit über 20 Jahren.
Im Hintergrund schimmert die Silhouette der Karl-Borromäus-Kirche. Bei rund 15.000 Todesfällen pro Jahr allein in Wien bleibt ihm allerdings kaum Zeit, innezuhalten. "Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Knochenjob". Gemeinsam mit rund 30 Kollegen begleitet Schertler auf diesem zweitgrößten Friedhof Europas die Menschen auf ihrem letzten Weg. Der Umgang mit dem Tod, ihm ist er fast schon zur Gewohnheit geworden. "Ich möchte bewusst keine Geschichten der jeweils Verstorbenen kennen". Anonymität und Diskretion sind wichtige Voraussetzungen für seinen Beruf – und ein notwendiger Selbstschutz, damit ihm der Tod nicht zu nah auf den Leib rückt.
Trauerarbeit - heute wichtiger denn je
Dass der Tod – insbesondere der Tod eines engen Verwandten oder eines Familienmitgliedes – das Leben der Hinterbliebenen radikal in Frage stellen kann, weiß wohl niemand besser als P. Klaus Schweiggl. Der Jesuit ist seit Jahren als Seelsorger in der Trauerbegleitung tätig und ein gefragter Ausbildner, Autor und Experte für Hospizarbeit und "palliative Care". Aktiv ist der Jesuit u.a. im "Mobilen Hospiz" der Caritas der Erzdiözese Wien und im Kardinal König-Haus. Trauer, sagt P. Schweiggl, ist der Moment größter menschlicher Authentizität – aber auch größter Verletzlichkeit. Da sei es das wichtigste, zuzuhören und aufrichtiges Interesse am Anderen zu zeigen. "Ein wichtiger Grundsatz meiner Arbeit lautet, nicht auf Fragen Antwort zu geben, die noch gar nicht gestellt worden sind".
Lernen könne man dies nicht aus Büchern. Zwar gebe es zahlreiche seelsorgerische Modelle, aber entscheidend sei die eigene Haltung. Sein Lehrmeister ist dabei Jesus selbst, wenn er seine Jünger im Matthäus-Evangelium fragt: "Was aber kann ich euch tun?" Dies sei die eigentliche Grundhaltung – so einfach und doch so unendlich schwer –, die es in der Trauerbegleitung brauche. Hinschauen, Hinhören, die Trauer und den Schmerz aushalten und schließlich – wenn man gefragt wird – ein Zeugnis der eigenen Hoffnung geben. Und das gelte im Übrigen auch ganz unabhängig davon, ob die Menschen Gläubige seien oder Atheisten, Suchende oder Menschen, denen ihr Glaube abhanden gekommen ist. "Wir sind alle gleichermaßen auf der Suche".
Zwischen Falco, Beethoven und Brahms
Dennoch werde der Bewältigung von Trauer und Leid in unserer Gesellschaft immer weniger Raum und Zeit eingeräumt, glaubt P. Schweiggl. Vielleicht habe das auch mit einem Niedergang an Ritualen zur Bewältigung der Trauer zu tun. Wo früher große Familien Trauernde auffingen und Trauer in den Alltag integrierten, sind Menschen heute oft alleingelassen und ausgesetzt. "Die Schonzeit wird immer kürzer, bevor das Leben den Trauernden wieder in den Alltagstrott zurückruft".
"Wo sind denn die Gräber von Beethoven und Brahms?" fragt eine ältere Dame mit gedämpfter Stimme. Schertler weist den Weg: "Den Hauptweg auf die Kirche zu, gleich auf der linken Seite". Am meisten werde immer noch nach Falco gefragt, verrät er mit einem Grinsen. "Wobei Falco heuer von Helmut Zilk überholt werden könnte". Der ehemalige Wiener Bürgermeister hat ein Ehrengrab gleich am Rondell der Borromäus-Kirche. Ein schöner, schattiger Platz – und noch dazu in guter Gesellschaft etwa mit Bruno Kreisky und dem Schauspieler Curd Jürgens.
Dass der Tod nicht nur zum Leben gehört, sondern geradezu vom Leben eingeholt wird, wird wohl nirgends so sichtbar wie am Zentralfriedhof. Inline-Skater rollen die langen schattigen Straßen hinunter, viele sind mit dem Fahrrad unterwegs, eine eigene Buslinie führt quer über das Gelände, man trifft auf Jogger. Fast glaubt man, in einem großen Erholungsgebiet zu sein. "Der Zentralfriedhof ist eine Grünoase und ein großes Stück Wien. Er ist nicht nur letzte Ruhestätte sondern gehört mitten ins Herz des Wieners", bringt es Schertler auf den Punkt.
Entsprechend liebt er seinen Beruf: "Am schönsten ist der Friedhof im Herbst, wenn es leerer wird, wenn Nebelschwaden in der Früh über den Gräbern liegen". Dann hat die über allem liegende Ruhe nichts bedrückendes mehr, dann nimmt sie nicht die Luft zum atmen, dann – in diesen seltenen Momenten – berühren sich vielleicht tatsächlich für kurze Zeit Himmel und Erde und die Grenze zwischen Leben und Tod wird zur Grenze zwischen Leben und Leben.
Quelle: "Stadt Gottes" (2009) | Autor: Henning Klingen